Das Kreuz im Chorraum der Kirche ist für die Netpher Gottesdienstbesucher ein vertrauter Anblick, gehört selbstverständlich zum Kirchenraum, fügt sich harmonisch in seine Umgebung. Niemand denkt daran, dass es erst seit wenigen Jahren die Kirche vervollständigt. Am 10. Oktober 1982, übergab der Künstler Wolfgang Kreutter aus Bad Berleburg-Dödesberg im Gottesdienst sein Kunstwerk zum Dienst an der Gemeinde.

In den alten Kirchen standen die Hochaltäre, die den Blick der Gemeinde auf den Chorraum konzentrierten. Bis zur grundlegenden Renovierung, die 1968 abgeschlossen wurde, gab es auch in unserer Kirche einen Hochaltar, der aber eigentlich nicht zu einem reformierten Kirchenraum passte und auch dem Kunstverständnis unserer Zeit nicht mehr entsprach. Nach der Renovierung blieb der Platz an der Stirnwand zunächst leer. Immer wieder wurde diskutiert, wie ein Kreuz oder ein Wandteppich oder Ähnliches den Chorraum ergänzen sollte.

Schließlich erteilte die Gemeindehelferin unserer Kirchengemeinde, die immer noch unvergessene Lena Schulz, dem Künstler den Auftrag für einen Entwurf zur Gestaltung des Chorraums. Ihr Wunsch war es, dass es ein Kreuz sein sollte und dieses an Taufe, Abendmahl und Kreuzigung und gleichzeitig an die Geburt, die Menschwerdung Jesu erinnern sollte – eine fast unlösbare Aufgabe für den Künstler, die dieser aber genial gelöst hat.

Vielen Betrachtern fällt auf den ersten Blick nicht auf, dass das Kunstwerk im Chorraum der Kirche ein Kreuz darstellt. Erst wenn die beiden Flügel eingeklappt sind, wird die Form des Tafelkreuzes sichtbar. Und in gut reformierter Tradition ist auf der Kreuzfläche das Wort aus dem Anfang des Johannes-Evangeliums eingeschnitzt, das an die Menschwerdung Jesu erinnert: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ Wer jedoch diese Worte lesen will, muss sich zunächst ein wenig Mühe geben. Durch die grafische Aufteilung der Schrift macht der Künstler deutlich, dass es auch der Mühe bedarf und der Mühe wert ist, in die Geheimnisse der Gedanken des Johannes oder auch der Menschwerdung Jesu einzudringen.
Das geöffnete Tafelkreuz zeigt eine sicherlich eigenwillige, aber doch sehr einleuchtende Interpretation der biblischen Heilsereignisse. Jeder kann sich selbst seine Gedanken dazu machen, zumal die Darstellungen bis in die letzte Kirchenbank gut erkennbar sind. Dennoch sollen einige Erklärungen das Verständnis erleichtern.

 

 

Wichtig sind auf allen drei Tafeln die Symbolfarben. Auf alten Gemälden wird die Farbe Gold verwendet, um das Eindringen und die Gegenwart Gottes in dieser Welt zu verdeutlichen. Zu der kantigen Darstellung hätte keine goldene Farbgebung gepasst, darum verwendet der Künstler statt dessen die Farbe Gelb; auf der linken Tafel lässt er die Taube aus dem Bereich Gottes in diese Welt kommen. Auf der rechten Tafel deutet der Kelch die Gegenwart Gottes in Christus beim Abendmahl an.

Die Farbe Blau weist hin auf die Treue Gottes zu den Menschen. Auf der linken Tafel wird die Treue Gottes im Wasser der Taufe sichtbar. Auf der mittleren Tafel ist das Kreuz des einen Schächers blau unterlegt. Dieser mit Jesus gekreuzigte Verbrecher hatte ihn geschmäht und verspottet. Obwohl wir Menschen meinen könnten, er hätte sich damit selbst sein Urteil vor Gott gesprochen, bleibt dennoch auch die Zusage der Bibel gültig, dass Gott allen seinen Geschöpfen die Treue hält und alle möglichen Entlastungsgründe auch für diesen Verbrecher im Jüngsten Gericht gelten lassen wird.


Die Farbe Grün steht für die Hoffnung, die der andere mit Jesus gekreuzigte Verbrecher zugesprochen bekam, nachdem er sich zum Sohn Gottes bekannt hatte. In der Abendmahlsszene auf der rechten Seite ist die leere Bank grün gefärbt. Die freien Plätze am Abendmahlstisch laden ein, dort Platz zu nehmen und die Hoffnung auf Versöhnung mit Gott durch Jesus zu erneuern.

Durch die Farbe Rot deutet der Künstler das Kreuz als Zeichen der Liebe Gottes. Bei Taufe, Abendmahl und Kreuzigung beherrscht die Farbe Weiß die Darstellung, die Farbe der Vergebung und der Unschuld. Die Taufe und die Taube, die bei der Taufe Jesu vom Himmel herabkam, sollen Gottes Angebot der Vergebung für alle Menschen deutlich machen. Beim. Abendmahl nehmen die Menschen Platz am weißen Tisch der Versöhnung, auf dem für jeden das Brot bereit liegt, das Jesus uns als Zeichen der Gnade anbietet.

Das Weiß, das dem Kreuz Jesu unterlegt ist, ist eigentümlich zerfetzt. Jesus bietet uns durch seinen Tod die vollkommene Versöhnung an, nicht nur etwas Unvollkommenes und Zerfetztes. Aber wir Menschen schaffen es nicht, eine wirklich versöhnte Beziehung zu Jesus aufrecht zu erhalten; immer wieder zerstören wir, was uns rettet. Das ganz Besondere dieser Kreuzigungsdarstellung ist nun, dass je mehr wir durch unser Sünde immer wieder die Versöhnung beschädigen, dahinter um so größer das Rot als Zeichen der ungebrochenen Liebe Jesu zu uns auftaucht.

 

Als der Künstler sein Kreuz fertigte, wurde gerade das alte Pfarrhaus zum neuen Gemeindehaus umgebaut. Eine ganze Reihe von Eichenbalken und Kleinmaterial mussten entfernt werden. Dieses Holz interessierte den Künstler. In den Kreuzbalken erkennt man das grob gebeilte Holz von Deckenbalken wieder. Die gelben und blauen Hölzer der Taufszene wurden aus den Latten hergestellt, die mit Stroh und feuchtem Lehm umwickelt in die Nuten der Deckenbalken geschoben wurden, um die Geschosse gegeneinander zu isolieren. Insgesamt erkennt man bei dem Tafelkreuz das wunderschöne rötlich verfärbte Holz alter Eiche. Somit erinnert das Kreuz auch noch an das alte Pfarrhaus unserer Kirchengemeinde.
Wer sich in reformierter Theologie auskennt, weiß, dass bildliche Darstellungen verboten sind. Wir haben seinerzeit lange diskutiert, und schließlich hatte der Künstler seine Darstellung so abstrahiert, dass der Sinn deutlich ist, aber niemand durch diese Symbolik zu einer Bilderverehrung verführt werden könnte. Diese Darstellung ist daher ein wichtiger Beitrag zur Kunst in reformierten Kirchen. Das Tafelkreuz ist kein Bild im eigentlichen Sinne, sondern symbolische Darstellung biblischer Heilsaussagen, eine Predigt ohne Worte.

Klaus Seidenstücker