Detail aus der Bauzeichnung von 1748
- Predigt über allen Predigten
Es gibt eine Bestandsaufnahme der Kirche von 1748, in der viele Kunstgegenstände eingezeichnet sind. Auf Grund ihres reformierten Bekenntnisses legte die evangelische Gemeinde in Netphen keinen Wert auf Kunstwerke. Als die katholische Pfarrgemeinde 1896 in ihre eigene neue Kirche umzog, blieb als einziges altes Kunstwerk in der Martini-Kirche die barocke Kanzel. Allerdings wurde diese einheitlich mit brauner Farbe übermalt. Erst bei der letzten größeren Renovierung der Kirche im Jahr 1968-70 wurde die Kanzel am jetzigen Standort aufgestellt und in der ursprünglichen Farbgebung restauriert. (Zuvor war die Kanzel an der vorderen Säule unterhalb des erhöhten Chorraumes auf der linken Seite angebracht.)
Bisher war nicht bekannt, welcher Künstler die Kanzel geschaffen hat. Bei einem Besuch der Petrikirche in Soest fiel mir die Ähnlichkeit der beiden Kanzeln auf. Ein Vergleich der Stile und künstlerischen Gestaltungsformen machte deutlich, dass beide Kanzeln vom gleichen Künstler geschaffen sein müssen. Für die Kanzel in Soest ist der Künstler bekannt. Es war Johann Sasse aus Attendorn (gest. um 1707). Sein Sohn Peter Sasse (gest. 1755) setzte die künstlerische Tradition fort. Daneben gab es zu dieser Zeit weitere hervorragende Holzschnitzer in Attendorn.
Johann Sasse schuf die Ausstattung der Abteikirche in Corvey, die Kanzeln in Soest und Mellrich, kunstvoll geschnitzte Türwände und Wandverkleidungen in Burg Schnellenberg. Auf Grund von Stilvergleichen müssen ihm Kunstwerke in den Kirchen in Wormbach, Hemer (St. Peter und Paul), in der Adolphsburg, in Paderborn und Lehnhausen, in der Kapelle Fehrenbracht und jetzt auch die Kanzel der Evang. Martini-Kirche Netphen zugeschrieben werden. Das barocke Orgelgehäuse in der Kirche St. Peter und Paul in Kirchhundem wurde im Jahr 1701 vom Tischler Johann Viegener aus Netphen und dem Bildhauer Johann Sasse aus Attendorn gemeinsam gestaltet. Vielleicht beruht in dieser Zusammenarbeit sogar die Verbindung, durch die es zum Auftrag für die Netpher Kanzel an Johann Sasse kam.
Das Schnitzwerk einer barocken Kanzel dient nicht nur der Verschönerung, sondern will immer auch eine biblische Botschaft überbringen. Im Gegensatz zur barocken Grundstimmung, in der viel über Todessehnsucht und Höllenangst, über das Weltende und Gericht nachgedacht wurde, will Johann Sasse mit seiner Kanzel frohe Botschaft weitersagen. Die christliche Botschaft ist vor allem im Schalldeckel, der oberen Etage der Kanzel enthalten. Die Kirchenbesucher des 17. Jahrhunderts konnten vielfach nicht die Bibel lesen, aber die symbolischen Darstellungen verstanden sie besser als wir Menschen heute.
Auf dem Kranz um den Schalldeckels sind Kelche und Schneckensymbole zu sehen. Der Kelch ist das nach oben offene Gefäß, das von Gott gefüllt wird mit dem, was zur Erlösung dient. Auch der Kelch beim Abendmahl enthält nicht menschlichen, sondern göttlichen Trank, der die Menschen mit Gott versöhnt, die diese Speise annehmen. So soll auch das Geschehen auf der Kanzel die Menschen nähren mit der Verheißung von oben. Zentrale Botschaft dieser Verheißung ist die Auferstehung. Die Schnecke ist Symbol der Auferstehung. Eine Weinbergschnecke verkriecht sich im Herbst in ihr Schneckenhaus und verschließt die Öffnung, Beispiel dafür wie Jesus im Grab versiegelt war. Und wenn das Frühjahr kommt, sprengt die Schnecke die Tür und kommt lebendig hervor, gleichwie Jesus die Tür des Grabes sprengte. Die Botschaft von der Auferstehung soll im Mittelpunkt dessen stehen, was von der Kanzel verkündet wird.
Unterhalb des Schalldeckels fallen Taube und Strahlenkranz ins Auge. Der Sonnenkranz entspricht einer Aussage des vor vierhundert Jahren geborenen Paul Gerhardt, der am Ende seines Lied „Ist Gott für mich“ (eg 351) dichtete: „Die Sonne, die mir lachet, ist mein Herr Jesus Christ; das, was mich singen – oder predigen – machet, ist, was im Himmel ist.“ Die Taube haben erst spätere Generationen hinzugefügt. Sie wollten durch dieses Symbol noch deutlicher sagen, dass die Predigt die Kraft des Heiligen Geistes braucht und durch die Kraft des Heiligen Geistes wirkt.
Der Apostel Paulus sagt (Römer 10, 17): „Der Glaube kommt aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.“ Wo dies auf der Kanzel geschieht, wird den Glaubenden angeboten, was auf dem unteren Teil der Kanzel, dem Kanzelkorb, dargestellt ist. Im 17. Jahrhundert spielten - wie auch heute - die Engel im Glauben der Menschen eine besondere Rolle. Durchaus eigenwillig ist die Interpretation des Künstlers, den Engeln die Vermittlung der paradiesischen Gaben anzuvertrauen. Sehr deutlich ist die Darstellung der Paradiesesfrüchte, die aber nicht alle zu identifizieren sind. Auf jeden Fall zu erkennen sind Weintrauben, Haselnüsse, Walnüsse, Granatäpfel, Birnen, verschiedene Blumen. Was die vielen Früchte symbolisieren sollen, ist die überwältigende Fülle der Paradiesesgaben. Die Engel sind die Garanten dafür, dass die Botschaft der Erlösung sich im Paradies erfüllen wird als eine großartige Gabe, bei der alle menschlichen Wünsche und Hoffnungen in Erfüllung gehen werden. Die Predigt ist dann recht, wenn sie den Menschen auf den Weg zum Paradies führt.
Klaus Seidenstücker