Die jetzige Kirche war ursprünglich Wehrkirche. Wir müssen uns vorstellen, dass die Kirche wie der Turm früher Schießscharten an Stelle von Fenstern hatte. Wenn Feinde den Ort bedrohten, zogen sich die Menschen hinter die Mauern des Kirchhofs zurück. Wurden diese Verteidigungswälle überwunden, verbarrikadierten die Menschen sich in der Kirche und waren dort erst einmal sicher. Konnte der Feind in die Kirche eindringen, konnten sich die Verteidiger und Schutzsuchenden in den Turm zurückziehen.
Es gab damals nur die enge Wendeltreppe, die noch heute in der Turmwand nach oben führt und leicht zu verteidigen war; der Turm war eine nahezu uneinnehmbare Festung. Bei Kirchenführungen verzichten viele Besucher nach einem Blick auf die Treppe darauf, den Aufstieg zu wagen, weil sie Platzangst bekommen.
Die kunsthistorischen Beschreibungen unserer Kirche bezeichnen sie als dreischiffige Hallenkirche aus dem 14. Jahrhundert. Allerdings deuten wichtige Merkmale auf das höhere Alter des Turmes. Die Bautechnik ist altertümlicher, und Turm und Kirchenschiff sind nicht miteinander verzahnt, wie das bei einem einheitlich errichteten Bauwerk geschehen wäre. Vor der letzten Renovierung der Kirche 1968 hatte sich zwischen Turm und Kirchenschiff ein bis zu 20 cm breiter Riss aufgetan.
Alte Überlieferungen besagen, dass es unterhalb der Kirche einen Fluchttunnel gegeben haben soll, der vom Obernautal bis ins Siegtal führte und einen Einstieg in der Kirche hatte. Wahrscheinlich ist dies eine Sage. Aber es gab noch zur Zeit des 2. Weltkriegs einen Stollen, der ca. 10 Meter weit unter den Friedhof reichte. Die Menschen aus der Nachbarschaft, die bei Fliegeralarm nicht mehr den eigentlichen Schutzbunker erreichen konnten, retteten sich in den Stollen. Der Stollen ist heute zugeschüttet. Aber auch die Kirche selbst hat während des 2. Weltkriegs noch als „Wehrkirche“ gedient und Menschen hinter den dicken Mauern Schutz bei Beschuss geboten.
Der Weg hinauf in die Kirche kostet Mühe. Wer den steilen Aufstieg und die vielen Treppenstufen bewältigt hat, den erwarten hinter der Kirchentür noch einmal Stufen. Und in der Kirche überrascht den fremden Besucher nochmals eine Steigung bis hinauf zum Chorraum. Eine Besonderheit unserer Kirche. Es gibt zwei Erklärungsversuche für diese Eigenart. 1. die praktische Lösung: In der Zeit um 1350, als die Kirche gebaut wurde, sind die Bauleute an der Aufgabe gescheitert, mit ihren Werkzeugen den harten Fels dem Fundament anzugleichen und sind der natürlichen Neigung des Berges beim Bau der Kirche gefolgt. 2. Eine theologische Erklärung: Die Menschen sollten in der alten Zeit zum Hochaltar und dem dort aufbewahrten Altarsakrament aufblicken. Heute könnte man sagen: Der Blick soll auf den Abendmahlstisch und die dort ausgelegte Bibel gelenkt werden.
Einst hingen in der Eingangshalle im Turm drei Seile von der Gewölbedecke herab, mit denen die Glocken geläutet wurden. Die Öffnungen, durch die die Seile geführt wurden, sind heute noch zu sehen. Konfimanden früherer Generationen machten sich einen Spaß daraus, sich beim Läuten bis unter die Gewölbedecke ziehen zu lassen – und bisweilen gab es dann Beulen oder sogar Abstürze. Rechter Hand befindet sich das Gedenkbuch für die Toten der beiden Weltkriege.
In der Höhe der Orgelempore befindet sich heute ein Durchbruch zwischen Kirchenschiff und Turm. In der sogenannten Turmstube sind die Blasebälge der Orgel untergebracht, die heute durch Windmotoren gefüllt werden. Aber die abgesägten Enden der Trittstangen für die Blasebälge sind noch sichtbar, die früher einmal eifrig getreten werden mussten, damit der nötige Luftdruck für die Orgel erzeugt wurde und die Orgeltöne nicht jaulten oder erstarben.
Ein Stockwerk höher unterhalb des Kirchendaches sind vom Turm aus die Gewölbekuppeln von oben sichtbar. Nach der Besichtigung mag einem wohl der Gedanke kommen, ob es denn sicher ist, sich unter diese Gewölbe zu setzen; aber immerhin halten die Gewölbe seit rd. 700 Jahren.
Zur Herstellung der Gewölbe bauten die Bauhandwerker seinerzeit ein Gerüst, das die gewünschte Wölbung vorabbildete. Dann wurden flache Feldsteine aufgeschichtet im Bogen, außen flach und zur Mitte hin immer steiler, bis dann der aus der Bibel bekannte Schlusstein („Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. z.B. Matth. 21, 42) senkrecht eingefügt wurde. Danach zogen die Bauleute vorsichtig das Gerüst fort. Es rumpelte und krachte ganz fürchterlich. Und wenn die Steine sorgfältig geschichtet waren, verkeilten sie sich so stramm ineinander, dass sie stabiler hielten als jede Betondecke.
Wieder ein Stockwerk höher können wir im Turm das alte mechanische Uhrwerk bestaunen mit den großen Gegengewichten, die bis heute die Uhr an der Außenseite des Kirchturms antreiben. Das Uhrwerk arbeitet präzise. Allerdings kann die Uhrzeit durcheinander gebracht werden, wenn außen starker Wind auf den Zeigern steht und diese hemmt.
Im nächsten Stockwerk kommt man endlich zu den drei Glocken, 1924 neu angeschafft und in Apolda aus Stahl gegossen. Die ehemaligen und sehr alten Bronzeglocken hatten im 1. und 2. Weltkrieg leider abgegeben werden müssen, um daraus Kanonenrohre zu fertigen. Die Glocken tragen die Inschrift „Ehre sei Gott in der Höhe // und Friede auf Erden // und den Menschen ein Wohlgefallen.“ Die eigentliche Turmspitze kann nicht bestiegen werden. Der Turmhahn ist nur über das Dach zugänglich und wurde zuletzt 1986 erneuert.
Unsere Martini-Kirche lässt sich nicht mit den großartigen Kathedralen und Domen des Mittelalters vergleichen, sie hinkt sogar ihrer Zeit hinterher. In der Zeit der Hochgotik ist sie eher dem Stil der Spätromanik und Frühgotik nachempfunden. Der vermutlich aus der Region stammende Baumeister ist nicht bekannt, aber er träumte nicht von kühnen architektonischen Entwürfen. Seine Kirche sollte stabil sein, Geborgenheit vermitteln und – wie bereits gesagt – Schutz bieten in Kriegszeiten. In dieser Kirche mit ihren meterdicken Wänden und Säulen erkennen die Gläubigen Gott als feste Burg seiner Menschen. Unsere Kirche war Gottes „gute Stube“ im Dorf, passte in die Landschaft, spiegelte die Gefühle der Menschen, die sie erbaut haben. Sie ist nicht der Palast Gottes auf Erden, der Ehrfurcht vor der Allmacht Gottes einflößen sollte; in ihr sollten die Menschen sich wohlfühlen und Gottes gütige Nähe spüren. Hier konnte man mit Gott reden wie mit einem Freund.
Architekturgeschichtlich gesehen entspricht die Kirche dem Typ der südwestfälischen Hallenkirche, in der die Seitenschiffe gleich hoch und halb so breit sind wie das Mittelschiff.
Bis vor etwa hundert Jahren war die Kirche ringsum mit Holzemporen ausgestattet, von denen 1917 die eine durch den Kirchenbrand infolge Überhitzung des Ofens abbrannte. Die restliche Empore wurde erst im Zuge der letzten Renovierung 1968 entfernt und durch die Orgelempore aus Beton ersetzt, die nicht unbedingt eine Verschönerung der Kirche bedeutet.
Ursprünglich gab es natürlich keine Bänke in der Kirche, die Menschen standen während des Gottesdienstes. Irgendwann dann gönnte man den Menschen, die aus dem ausgedehnten Kirchspiel sonntags bis zu 20 Kilometer weit zur Kirche wanderten, Sitzgelegenheiten.
Üblich war, dass aus jedem Haus des Kirchspiels zumindest ein Familienmitglied zum Gottesdienst kam und dann im Anschluss an den Gottesdienst die Wocheneinkäufe für die Familie erledigte. Allerdings kamen viele Gläubige auch so ermüdet zur Kirche, dass Schnarchgeräusche während der Predigt durchaus an der Tagesordnung gewesen sein sollen. Unmittelbar um die Kirche herum gab es sechs Läden, zum Teil gehörten Kaffeestuben dazu, wo man nach dem Gottesdienst einen Kaffee und Butterwecken zu sich nehmen konnte, um sich für den langen Heimweg zu stärken.
Bis die Katholische Pfarrgemeinde 1897 in ihre neue St. Martini-Kirche umzog, war die Kirche mit vielen Kunstgegenständen, Heiligenfiguren usw. ausgestattet, die aus der Zeit der katholischen und der Zeit der simultanen Nutzung durch die beiden Konfessionen stammten. Die katholische Pfarrgemeinde nahm alle transportablen Kunstgegenstände mit, da sie dem reformierten Verständnis eines Gotteshauses widersprachen. Allerdings sind die meisten der Kunstgegenstände heute auch dort nicht mehr vorhanden.
Für die jetzt evangelische Kirche wurde ein neuer Hochaltar im Stil der Zeit von der Netpher Fabrikantenfamilie Hüttenhain gestiftet. Diese Austattung der Kirche wurde dann bei der Renovierung 1968 durch die jetzigen betont schlichten Sakralmöbel ersetzt. Der Platz an der Stirnwand blieb leer, bis die unvergessene Gemeindehelferin Lena Schultz 1982 dem Bad Dödesberger Künstler Wolfgang Kreutter den Auftrag erteilte, ein Tafelkreuz für den Chorraum zu schaffen.
Bis zur letzten Renovierung war die barocke Kanzel nicht im Chorraum, sondern an der vorderen Säule links im Kirchenschiff befestigt. Man hatte sie - streng reformiert – mit brauner Farbe überstrichen, bis dann die schönen alten Farben restauriert und die Kanzel in den Chorraum verlegt wurde. Die Kanzel wurde wahrscheinlich um 1700 von dem Attendorner Bildschnitzer Johann Sasse geschaffen (sh. unten Anhang 1).
Der Chorraum war früher mit einem blauen Himmel mit goldenen Sternen bemalt, an den sich die älteren Gemeindeglieder noch gern erinnern. Rund um den Chorraum standen die „Presbyterbänke“, sodass Pastor und Gemeinde auf einen Blick kontrollieren konnte, ob alle Presbyter zum Gottesdienst anwesend waren.
Früher wurde in unserer Kirche auch beerdigt, bis dies von der Obrigkeit aus hygienischen Gründen allgemein verboten wurde. Bei der Verlegung der Heizungsrohre für die Kirchenheizung wurden, wo immer man grub, Knochen entdeckt. Die hier beigesetzten Menschen, vermutlich einst von Bedeutung für die Kirchengemeinde, sind uns heute unbekannt. Die letzten benennbaren Grabstätten in der Kirche stammen von 1741 – der kath. Pfarrer Anton Loos – und 1748 – die Frau Agnes des evangelischen Pfarrers Johann Goebell. Das Grab der Agnes Goebell befindet sich im Chorraum vor der kleinen Sakramentsnische rechter Hand.
Die jetzige Orgel wurde 1934 von der Firma Paul Faust aus Schwelm mit 13 Registern erbaut. Da das Geld knapp war, wurden die Reste der beim Brand von 1917 zerstörten Orgel und Teile einer nicht mehr benötigten Orgel aus Ferndorf verwendet. Die Orgel wartet auch heute wieder auf eine gründliche Renovierung oder Erneuerung.
Literatur zum Thema:
- Hermann Böttger – Wilhelm Weyer – Alfred Lück: Geschichte des Netpherlandes, Netphen 1967
- Adolf Kühn: Aus der Geschichte der Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinde Netphen, Netphen 1953
- Josef Thyssen – Heinz Stötzel: 750 Jahre Kirche in Netphen, Netphen 1989